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„Heud is fei mei Daach!“

 

 

 

 

 

Frau Herbstberger war einsam, darin bestand kein Zweifel. Deshalb setzte sie sich jeden Tag in das schönste Café von Hartmannshausen, in das „Frankenbäck“ und aß dort ein Stückchen Torte, manchmal waren es sogar zwei.

Dass Frau Herbstberger davon dick wurde, darin bestand kein Zweifel. Es war die „Dickheit des Geistes“, denn es war Frustessen. Frau Herbstberger war gefrustet! Was war Frau Herbstberger gefrustet! Sie war gefrustet von ihrem Leben und sie war gefrustet von ihren Kindern, es waren beachtliche vier!

Immer gesellte sich Frau Herbstberger dann zu einem Gast und erzählte diesem ihr ganz persönliches Leben. Von ihrem Mann erzählte sie, der war schon gestorben. Von ihren Kindern erzählte sie, die waren schon außer Hauses und kamen nicht allzu oft zu Besuch. Sie sahen die Mutter durchschnittlich zweimal im Jahr, Weihnachten und Ostern, das sollte reichen.

Dann beschenkten sie sie mit reichlich Schmuck, schön und teuer war er, aber lieblos und ohne Seele. Sie kauften sich frei damit. So sah es die Mutter. Ach ja, zu ihrem Geburtstag bekam Frau Herbstberger stets edle rote Rosen über Fleurop.

Auch von ihrem Dackel erzählte sie, der hatte letzten Monat das Zeitliche gesegnet. Auch er war voluminös gewesen wie sein Frauchen.

Und von ihrer Mutter und ihrem Vater erzählte sie, ohne Umschweife, diese waren ausnahmsweise nicht dick. - Frau Herbstberger war aus der Art geschlagen. - Geschwister hatte sie keine, von denen sie hätte erzählen können, sie war ein Einzelkind. Sicher wäre sonst ihre Lebensschilderung noch länger geworden. Frau Herbstberger schaffte es, in einer halben Stunde ihr gesamtes Leben zu erzählen. Die einsame Frau redete dabei sehr freimütig, ohne jegliche Larmoyanz oder gar Zimperlichkeit. Sie nahm kein Blatt vor den Mund. Manch einer hielt sie deshalb für zudringlich und distanzlos.

Die alte Dame hatte über die Jahre hinweg neben den vielen Enttäuschungen seitens ihrer Kinder  ebenso  viele  Schmuckstücke  gesammelt von genau denselben Kindern. Eine große Schatulle hatte sie zu Hause stehen, deren Inhalt wertvoll war vom Kaufpreis her, aber wertlos vom ideellen Gesichtspunkt. Ein billiger Modeschmuck, der von Herzen gekommen wäre, so Frau Herbstberger, wäre weitaus „deurä gewese als diese hochwerdigen Dingä“.

Wie gesagt, Frau Herbstberger war einsam. Ja, sie war verbittert.

„Welchen Schmugg zieh ich heud an?“ - Wer die Wahl hat, hat die Qual! - Frau Herbstberger stand vor ihrem Schrank. „Nehm ich des oddä des?“ Sie hielt ein kleines Kreuz mit Brillanten in Händen, das sie letzte Weihnachten von Tochter Brigitte bekommen hatte. Dann nahm sie ein weiteres Kreuzchen, das von Sohn Michael. Er hatte es ihr Weihnachten vor zwei Jahren geschenkt. Es war mit edlen Steinen bestückt. Frau Herbstberger wog beide Kreuze in ihren Händen. „Ich nehm des von deä Brigidde!“, entschied sie sich. 

Sie legte sich das Brillantkreuz um, schminkte die Lippen purpurrot, tupfte etwas Puder ins Gesicht. Auf die  Wangen pinselte sie Rouge  und gab etwas Parfüm hinter ihre fleischigen Ohrläppchen. Dann nahm sie die schwarze kleine Handtasche, legte ihr Portemonnaie hinein und stolzierte Richtung „Frankenbäck“.

‚Heud is fei mei Daach´, dachte sie, als sie die drei Stufen zur Konditorei hinaufstieg, besser gesagt, sie zog sich am Gelände hoch und schnaufte. ‚Heud is fei mei Daach!‘ Warum sie so dachte, wusste sie nicht. Es war eine Intuition.

Im Café bestellte sie ihr übliches Kännchen Kaffee ohne Koffein, entschied sich heute für die Mandarinen-Sahne-Torte im Kühlregal und betrat die Caféstube. Sie setzte sich ans Fenster. Es war noch kein Gast da.

Sie nahm sich eine der ausgelegten Zeitschriften von der Anrichte und überflog die Seiten des Blattes.

Wenige Minuten später kam die Chefin mit den bestellten Sachen. „Dange, Frau Wachebrennä!“ Frau Herbstberger kannte die Besitzerin gut, sie hatte schon viele Plaudereien mit ihr geführt, und die tüchtige Frau Wagenbrenner  hatte stets  großes  Augenmerk auf das Wohl ihrer treuesten Kundin gelegt. Das tat gut! Frau Herbstberger wurde umsorgt.

„Des Weddä könnd auch ä bissle schönä werde, die Sonne lässd heud auf sich warde!“, startete Frau Herbstberger ihre Konversation. „Ja, da habe Se rechd!“, entgegnete die Cafébesitzerin.

Es bimmelte, Frau Wagenbrenner verließ ihren Gast und trat in den Verkaufsraum.

„Was wünsche der Härr?“, hörte Frau Herbstberger die Chefin sagen. „Ach, könnten Sie mir bitte diese zwei herrlichen Torten anschneiden?“

Die Chefin ging zum Kühlregal, öffnete es und holte zwei Tortenplatten heraus. Dann nahm sie ein großes breites Messer aus dem Heiß-Wasser-Becher und schnitt geschickt die gewünschten Torten an.

Frau Herbstberger indes steckte den Kopf heraus und blickte zufällig in das Gesicht eines wasserstoffgefärbten Blondlings. Ihre Blicke trafen sich.

Die zunächst trüben Augen des Fremden füllten sich mit Leben, als er die ältere Dame im Nebenraum erblickte. Sein  Körper straffte sich. Zur Bedienung gewandt, sagte er heiter: „Heute nehme ich die Torten nicht mit nach Hause, ich trinke eine Tasse Kaffee hier. Dieses Café ist ein wunderschöner Ort! Man gönnt sich ja sonst nichts!“ Er ging zielstrebig in den Gästeraum. Frau Herbstberger blickte ihn aufmunternd an und sagte freundlich: „Setze Se sich doch zu miä! Zwe einsame Seele auf dem Wech nach vorgesdän!“ Der junge Mann, oder war er mittel-alt, lächelte und setzte sich zu der Dame. Die Einladung kam gelegen. Seine Augen ruhten auf dem Gegenüber.

„Ach, das ist aber nett von Ihnen! Darf ich mich vorstellen, ich bin der Hans, sagen Sie einfach Hans zu mir!“ Frau Herbstberger war überrascht, ging jedoch gleich auf den jovialen Ton ihres Gegenübers ein. „Ach, dann sache Se einfach Gisela zu miä, Gisela Herbstberger!“

Die beiden schüttelten sich die Hand. Dann wurde das Gedeck für den neuen Gast gebracht. Er schlürfte vorsichtig an seinem Kaffee, während er hin und wieder das hübsche Brillant-Anhängerchen anvisierte. Er sah in die Augen der Besitzerin  und  schenkte  ihr   sein  schönstes Lächeln. Frau Herbstbergers Blick fing an zu strahlen, sie schien geschmeichelt. „Was haben Sie für ein hübsches Kreuzchen, Gisela!“ - „Des is von meinä Dochdä Brigidde. Sie had es miä letzdes Jahr zu Weihnachde geschenkd. Die Kinner wisse ned, was se miä schenke solle und daher greife se immä widdä auf Schmugg zurügg. Sie wolle sich freikaufe, müsse Se wisse, Hans!“ Dann legte sie los mit ihrer Vita und ratterte all die Sätze herunter, die sie schon so oft anderen Gästen vorgebetet hatte.

Hans zeigte Interesse, fragte nach, setzte ein „Ja“ oder ein „Nein, wirklich?“ hinter ihre Aussagen und lächelte freimütig. „Der Schmuck Ihrer Tochter steht Ihnen, auch wenn diese ein treuloses Ding ist, wie Sie selber sagen!“ Er beugte sich zu ihr. Die Einsame nahm Hans´ Aussage mit Genugtuung auf. „Dange, des dud gud, Hans! Wisse Se, ich bin drotz meinä vier Kinner so allä, ich komm jeden Daach hierheä und drink meinen Nachmiddagskaffee. Frau Wachebrennä kennd scho alle meine Geschichde in- und auswändich! Nedd woahr, Frau Wachebrennä?“, rief sie in den Verkaufsraum hinaus.

 Frau Wagenbrenner nickte von der Kühltheke her und rief dem Unbekannten zu: „Sie is eine sehr gude Kundin von miä, mir kenne uns schon lang, ned wahr?“

Die beiden Gäste unterhielten sich, besser gesagt, Gisela unterhielt Hans.

Dann - unvermittelt - verließ der Mann den Gästeraum, zahlte an der Theke, schenkte der Zurückgebliebenen noch einmal sein bezauberndstes Lächeln durch die Glastür und ging munteren Schrittes die Stufen des „Frankenbäck“ hinab. Heute war ein guter Tag für ihn: "Heute ist mein Tag!"

Am Abend war Frau Herbstberger wie ausgewechselt. Sie saß vor ihrer Schminkkommode und lächelte. „Des war e gudä Daach für mich, wussd` ich`s doch! Diesä Hans is e nedder jungä Mann, der had noch Maniere!“, sagte sie zu sich. „Wo is eigendlich mei Kreuz? Hab ich des scho ausgezoge?“ - „Was war des für e schönä Daach heud!“, triumphierte sie, „Ich hab`s geahnd!“

Dann legte sie sich zu Bett. Sie schlief ausnahmsweise gut und tief.

‚Heud war fei mei Daach!‘, klang es im Traum noch in ihr nach. ‚Heud war mei Daach!‘