Womit beginnt eine Reise?

 

 

 Erinnerungen unserer Pilgerschaft nach Santiago de Compostela

 

 

Teil III

 

 

 

 

 

 

Monte do Gozo – Santiago de Compostela

 

 

Der letzte Pilgertag, der 11. Mai 2023, ist für uns sehr ungewohnt, da wir uns nun im Stadtgetümmel von Santiago de Compostela zurechtfinden müssen, wir aber tragen noch die Ruhe unseres bescheidenen „Camino del Norte“ in uns. Wir sehen und hören Autos hupen, Busse fahren, Menschenmassen sich bewegen. Überall können wir ausgelassene Pilger beobachten, die Fotos und Selfies machen. Viele von ihnen wirken geschafft, aber zufrieden. Sie scheinen eine innere, tiefe Freude in  sich zu tragen. Wir entdecken auch das „ostwestdeutsche Paar“, das uns fröhlich zuwinkt. Einige Male fragen wir, wo es zur Kathedrale geht.

 

Dann ist es soweit: Fix und fertig, aber überglücklich, erreichen wir genau um 17.25 die Kathedrale und versenden, wind- und wettergebräunt, mit zerzausten Haaren, und nur unseren Kindern vorbehalten, eine persönliche Videobotschaft. Wir fühlen uns wie die Helden und sind überzeugt, unsere Kinder sind ziemlich zufrieden mit ihren Eltern, die bisher lange von ihren Plänen nur geredet haben. Nun ja, uns ist ja auch Corona in die Quere gekommen …

 

 

© Franka Frieß

            

 © Franka Frieß

 

   © Franka Frieß 

„Hallo Jakobus, wir sind jetzt auch da. Du hast uns gut geleitet!“

 

  Im Anschluss besuchen wir die Kathedrale und das Grab des Apostels Jakobus. Wir glauben zu träumen und bewegen uns wie in Trance: Haben wir tatsächlich diese 300 km auf Schusters Rappen zurückgelegt? Unsere Füße, Fußsohlen, Zehen und Knie erzählen es … Morgen um 12 Uhr findet die legendäre Pilgermesse statt, in der ein riesiges Weihrauchfass, der „Botafumeiro“, durchs Kirchenschiff geschwenkt werden wird. Wir sind sehr gespannt, denn wir haben schon so viel davon gehört. Ich lese im Internet - und lache laut auf -, dieses Weihrauchfass wurde ursprünglich eingesetzt, um den Gestank der Pilger, die früher in der Kathedrale übernachteten, zu verbergen. Es gibt inzwischen mehrere Exemplare des „Botafumeiro“, gegenwärtig wird in der Regel der älteste aus dem 11. Jahrhundert verwendet.

 

In der Kathedrale in nächster Nähe zum Apostelgrab zünde ich eine Kerze an und sende dieses Foto in meine Whatsapp-Gruppe. Ich schreibe dazu: „Die oberste Kerze in der Mitte habe ich in euren Anliegen angezündet.“ Ich merke, dass sich einige darüber freuen. Geteiltes Leid ist halbes Leid …

 

 

 © Franka Frieß

 

Wir bleiben ein paar Tage in Santiago de Compostela, lassen die vergangenen Wochen ausklingen und besuchen die Pilgermesse und das Grab des Apostels Jakobus insgesamt dreimal - bis wir gesättigt sind. Ich persönlich habe mir das Grab anders vorgestellt, viel schlichter. „Andere Länder, andere Sitten. Andere Zeiten, andere Zeichen.“

 

Wir können beim wiederholten Besuch des Pilgergottesdienstes unsere Beobachtungen der menschlichen Spezies machen. Gott sei Dank wird während der Heiligen Messe immer mal kräftig "Psst" ins Mikro gezischt ... Fotos während des Gottesdienstes sind verboten, richtig so! Mein Mann und der Großteil der Besucher filmen das Schwenken des Weihrauchfasses der Männer am Ende (!) des Gottesdienstes. Es braucht acht kräftige Personen, um es an Seilen bis unter die Decke der Kathedrale zu schwingen. Sehr berührend und feierlich das alles, noch dazu das Gold der Putten und übergroßen Engel sowie die Farben der Fenster, die kräftig leuchten. Die Weihrauchschwaden, die sich über all das Bunte legen, vermitteln etwas Gespenstisches. Wie muss das in den vergangenen Jahrhunderten auf die erschöpften Pilger gewirkt haben? Sogar für uns moderne Pilgerinnen und Pilger, verwöhnt von Smartphone und Handy, verfehlt der Zauber seine Wirkung nicht. Ich entdecke hier und da verstohlene Tränen. Sind das Tränen der Erschöpfung, der Rührung, der Sehnsucht? Das alte Pilgerlied, das ein Chor im Altarraum singt, kann das Video meines Mannes bruchstückhaft einfangen, leider nicht den Duft des Weihrauchs …

 

 

 

 © Franka Frieß

 

 Der Abschied fällt sehr schwer. Es ist eine `güldene Zeit´ hier. Das zielstrebige Pilgern über Land, das wir hinter uns haben, und das entspannte Bummeln durch Santiago de Compostela mit seinem Flair aus Großstadtleben und Spiritualität betören uns. Immer wieder begegnen wir interessanten Menschen, die erschöpft und fröhlich ihren Camino hinter sich haben und über die jeweiligen Erfahrungen gerne plaudern. Eine amerikanische Pilgerin, auf die wir am Eingang des Pilgerzentrums treffen, erzählt uns, sie sei an diesem Tag 40 km gelaufen. Sie sieht fertig aus. Wir bewundern und loben sie. Sie wird sich gleich den letzten Stempel für ihren Pilgerpass und die „Compostela“, das ist das offizielle Abschlussdokument der Pilger, abholen.

 

Als wir zwei Tage zuvor im Pilgerzentrum unsere beiden „Compostelas“ entgegennehmen, besuchen wir im Anschluss eine ansprechend gestaltete Ausstellung in Art einer Diashow, die uns zum Nachdenken bringt. Ich füge zwei - wie mir scheint passende - Tafeln hier bei: „Gesegnet bist du, Pilger, wenn du nach der Wahrheit suchst, wenn du aus dem Camino ein Leben machst und aus deinem Leben einen Weg auf der Suche nach dem, der von sich sagt, er ist der Weg, die Wahrheit und das Leben.“  

 

 

 

 © Franka Frieß

                                                                                                                                                             

 „Wenn du die Reise als Ganzes siehst, würdest du sie vielleicht nie machen und nie den ersten Schritt wagen, der dich führt von einem Ort, den du immer schon kennst, zu einem Ort, den du nicht kennst.“ Jan Richardson „Der Kreis der Gnade“

 

 

 

 

 © Franka Frieß

 

Das Pilgerzentrum ist täglich umlagert von vielen, vielen Pilgern und Pilgerinnen, die sich den letzten Stempel und das Abschlussdokument hier abholen.

 

Unten siehst du eine Jesus-Statue im Garten des Pilgerzentrums, um die herum Kerzen aufgestellt und Zettel, Steine und Muscheln gelegt sind. Auch ich lege mein persönliches Anliegen dazu. Ein bisschen lächeln muss ich schon, weil man Jesus einen, nein gleich mehrere Rosenkränze umgelegt hat. Die Verehrungsformen sind halt in allen Ländern verschieden.

 

 

 © Franka Frieß

 

Wir nehmen am letzten Tag um 16.00 an einer kleinen Gesprächsrunde im Pilgerzentrum teil, veranstaltet von der deutschsprachigen Pilgerseelsorge, und dann um 18.00 am „Spirituellen Rundgang“. Dieses tägliche Gratisangebot gilt den ganzen Sommer über. Die Frauen aus Köln und Freiburg wirken sehr interessiert an unseren jeweiligen Camino-Erfahrungen. Sie erzählen, dass die Auslandsseelsorge von den deutschen Bistümern bezahlt wird. „Da sind die Kirchensteuern aber sinnvoll ausgegeben“, sage ich zu einer der Frauen, welche zustimmend nickt. Beim gut besuchten Rundgang schließlich gewährt uns die Gruppenleiterin einige höchst interessante Ein- und Aussichten, indem sie uns zu ausgewählten Stellen des Gotteshauses führt, welche wir alleine nie gesehen hätten. Sie entlässt uns mit einem Auszug aus dem „Nachtzug nach Lissabon“ von Pascal Mercier. Es freut mich, noch etwas spirituelle Nahrung für den Nachhauseweg mitnehmen zu können, denn der steht nun endgültig an.

 

 

 

ABSCHLUSS

 

 

 

25. Juli 2023 - Fest des Heiligen Jakobus

 

 

 

 Wieder sind einige Wochen ins Land gegangen und ich sehe unseren Camino noch immer deutlich vor mir. Er wirkt in mir nach, und die gemeinsam mit meinem Ehegefährten verbrachte Zeit in Nordspanien hat uns reifen lassen. Wir haben uns in unerwarteten Situationen wiedergefunden und unsere Schwächen besser kennengelernt und sie gemeistert.

 

 Wir denken sehr, sehr gern zurück und beginnen bereits bruchstückhaft eine zweite Pilgerschaft ins Auge zu fassen, wobei wir uns einig sind, dass uns der belebte Weg des „Camino Francés“ kaum reizt. Wir möchten den einsamen „Camino del Norte“, den wir im Frühling gegangen sind, zur Herbstzeit im nächsten Jahr wiederholen. Was wir partout nicht wollen, das sind die Fehler unserer ersten Pilgertour noch einmal machen: zu viel Gepäck, zu große Entfernungen - noch dazu gleich am ersten Tag, schlecht sitzende, zu enge Schuhe ... Nichtsdestotrotz möchten wir die gemachten Erfahrungen umsetzen, etwa: netten „Compañeros“ frühzeitig unsere Handynummer weitergeben, um sich am Abend gegebenenfalls auf ein Bier zusammensetzen zu können, zu telefonieren oder später Erinnerungen austauschen zu können.

 

Zu Beginn meiner Reiseschilderungen habe ich von einer „begnadeten Zeit“ geschrieben. Was wollte ich damit sagen?

 

 Ich durfte die tiefe Erfahrung machen, dass es sich lohnt, nicht aufzugeben. Du, der du das liest, schreibe es dir ins Herz: Es geht weiter, wie dunkel und unbezwingbar der Weg auch mitunter erscheinen mag. Manchmal führt dein Weg auf einer anderen Spur weiter oder endet irgendwo, um an anderer Stelle weiterzugehen. Wir haben uns einige Male bei dem Gedanken ertappt, alles hinzuschmeißen. Manchmal wusste ich nicht mehr weiter, fühlte mich irgendwo zwischen Start und Ziel der jeweiligen Tagesetappe gefangen. Wenn ich aufgegeben hätte, hätten wir uns ein Auto oder Taxi besorgen müssen. Aber wie? In meiner Not rief ich den Apostel Jakobus an, immerhin der Schutzpatron von uns Pilgern. Er stand geistig am Ende meiner Reise und wartete auf mich, so kam es mir vor. Ich sagte zu ihm: „Wenn du es warst, der mich gerufen hat zu dieser für mich spektakulären Pilgerschaft, dann hilf mir bitte auch, ans Ziel zu kommen!“ Ich sprach innerlich mit großem Nachdruck, unmissverständlich, denn ich hatte keine Wahl. Und siehe da, der Heilige antwortete mir, ich beruhigte mich - irgendwie - und schöpfte Kraft, wo eigentlich keine Kraft mehr da war oder ich bekam neue Ideen, was zu tun sei. Diese Grenzerfahrung machte ich öfters. Mal sprach ich mit Gott, mal schaltete ich den Apostel oder andere mir sympathische Heilige ein, Männer wie Frauen. Sie leiteten mein verzweifeltes kleines Gebet „verdoppelt und verdreifacht“ an den Allerhöchsten weiter. Es ist, als ob ich einen anderen, mir nahestehenden Freund um sein Gebet bitte, welches mich mitträgt und mein Anliegen „stärker wahrnehmen lässt im Himmel“. Sie waren meine Für-Sprecher im Himmel. Das weiß ich jetzt wohl.

 

Wir trafen gute Menschen, die uns großzügig weiterhalfen:

 

 Autofahrer hielten bei Regenwetter an, um uns mitzunehmen, was wir jedoch dankend ablehnten, weil wir ja „pilgerten“. Andere kamen uns preislich entgegen, erledigten unsere Wäsche spottbillig oder schenkten uns ein Frühstück, und ... und ... und. Großartige Menschen! Zur Nachahmung empfohlen.

 

Auf dem Weg hörten wir hunderte Male den fröhlichen Wunsch „Buen Camino!“ - „Einen guten Weg!“ Von Entgegenkommenden, Vorbeiziehenden, Einheimischen, von Pilgern aus aller Herren Länder, vom Fahrrad aus gerufen, vom Auto, vom Motorrad aus. Eine bunte freundliche Vielfalt. Einmal - in Asturien - wanderten wir gedankenverloren vor uns hin, plötzlich hörten wir ein kräftiges „Buen Camino!“ Wir hatten doch niemanden gesehen! Wir blickten auf und suchten, wo der Ruf hergekommen war. Da entdeckten wir weit entfernt einen Bauer an seiner Scheunentür stehen, der uns zuwinkte. Wir winkten zurück: „Gracias!“

 

 Eine Grunderfahrung dieser Pilgerschaft lehrte uns: Wir dürfen angstfreier mit unserem Leben umgehen. Gott, wie auch immer du über ihn denkst, führt dich. Vertraue darauf! Es lohnt sich und macht glücklich.

 

 Ich habe eingangs von einem „Sehnsuchtsland“ geschrieben. Dieses Land muss nicht Spanien sein, es könnte auch Cornwall, Franken, Schleswig-Holstein heißen oder direkt vor der Haustür liegen. Ich bin der Meinung, dass sich dieses „Land der Sehnsucht“ eigentlich im Inneren unserer Seele befindet. Der Camino ist ein Aufhänger für viele Erfahrungen, die du ebenso gut in deiner Heimat oder sonst wo machen kannst: Extreme, Grenzerfahrungen, Höhen und Tiefen. Das „Sehnsuchtsland“ bedeutet für mich, dass ich mich hinauslehne aus meiner vertrauten Szenerie in ein unbekanntes, von mir noch nicht erforschtes Land, dass ich offen bin dafür und mich verändern lasse von dem Neuen und Unbekannten.

 

 Meine Frage „Womit beginnt eine Reise?“ hängt noch immer an der Küchenspüle. Manchmal komme ich wieder ins Träumen. Dann erinnere ich mich an „unseren Camino“ im Frühling 2023 und sehe meinen Mann und mich bereits bei unserem nächsten Camino, irgendwann im Herbst. Sankt Jakob ruft bereits!

 

 Abschließen möchte ich diese Reiseerinnerungen an „eine begnadete Zeit“ mit den Worten des Dichters Novalis, die ich kürzlich in meinem Abreißkalender fand. Oder fanden die Worte mich? Sie stammen aus dem Roman „Heinrich von Ofterdingen“. Die schlichte Frage mit überraschender Antwort hat - ebenfalls - in meiner Küche einen Ehrenplatz gefunden. Die Worte werden sicher auch dich ansprechen, der du mir bis zum Ende gefolgt bist:

 

 „Wo gehen wir denn hin? Immer nach Hause.“